“Schüchtern”, “desinteressiert und gleichgültig”, “unfreundlich”, “kühl und passiv”, “langweilig” oder “hat keinen Spaß im Leben” – dies sind einige beispielhafte Vorurteile, die gegenüber Menschen mit ausgeprägter Introversion bestehen. Seit langer Zeit gelten in westlichen Gesellschaften die extravertierten und kommunikationsstarken Menschen als die erfolgreicheren. Doch im gesellschaftlichen Diskurs wandelt sich allmählich das Verständnis von Introversion und betont zunehmend ihre besonderen Qualitäten.
Introversion: Ein missverstandenes Persönlichkeitsmerkmal
“Warum beteiligst du dich denn nicht aktiver in der Gruppe?”
“Ist alles okay bei dir? Du bist irgendwie so still.”
“Ja, also hin und wieder lese ich ja auch mal ein Buch … aber machst du nicht noch irgendetwas Spannenderes in deiner Freizeit? Triffst du dich auch mal mit Leuten?”
Na, wurdest du auch schonmal mit solchen Fragen konfrontiert? Ich musste mich in meinem Leben schon häufiger für mein ruhiges Temperament rechtfertigen. Ich bin ein Mensch mit ausgeprägter Introversion und habe schon in meiner Kindheit den Reichtum meiner Innenwelt oft für spannender befunden als die Außenwelt. Bereits als Kind malte ich leidenschaftlich gerne idyllische Landschaften, bastelte allerlei Dekoratives für mein Zimmer und verschlang etliche Bücher der Reihe “Das magische Baumhaus” in meiner schulfreien Zeit. Soziale Aktivitäten haben mir nur begrenzt Freude bereitet und ich ging oft unter mit meiner stillen Art. In schulischen Gruppenarbeiten und Kindergeburtstagen hielt ich mich eher im Hintergrund, was öfters zu Irritationen bei besorgten Eltern und Pädagogen führte.
Erst sehr viel später in meinem Leben habe ich für mich selbst erkannt, dass ich gar nicht desinteressiert oder gar antisozial war, sondern schlichtweg introvertiert. Ich genieße durchaus soziale Aktivitäten und kenne auch das Gefühl von Einsamkeit, wenn ich mich zu sehr zurückgezogen habe. Doch mein Bedürfnis nach sozialer Interaktion ist im Vergleich zu anderen ein insgesamt geringeres und es sollten gewisse Bedingungen gegeben sein, damit ich mich in einem sozialen Kontext wohlfühlen kann. Beispielsweise große Zusammenkünfte, Chaos, Lärm und unbekannte Menschen sind für mich als introvertierte Person äußerst anstrengend und erschöpfen mich mental sehr schnell. Vielen ergeht es damit auch sehr ähnlich – daran ist also nichts unnormal.
Dennoch wird Introversion leider noch häufig missverstanden und wenig wertgeschätzt. Stille Einzelgänger, die die Urquelle ihrer Freude in Büchern oder im Alleinsein in der Natur gefunden haben, gelten noch oft als ängstlich und wenig gesellschaftsfähig. Selbstbewusste, gesellige und durchsetzungsfähige Menschen, die als extravertiert gelten, betrachtet man in westlichen Gesellschaften meistens als erfolgreicher und sozial kompetenter gegenüber ruhigen, introvertierten Menschen. Dies hat historische, wirtschaftliche und kulturelle Gründe.
In westlichen Gesellschaften ist insbesondere wirtschaftlicher Erfolg ein angestrebtes Ideal, um positiv aufzufallen. In der freien Marktwirtschaft herrscht ein hoher Konkurrenzdruck, weshalb Sichtbarkeit ein entscheidender Faktor für den Erfolg ist. Menschen sollen sich für ihren Erfolg vernetzen, anpassen und durchsetzungsfähig sein und auf andere Einfluss haben können.
Auch durch die Medien entsteht oft der Eindruck, dass insbesondere Personen wie Schauspieler, Sänger und TV-Moderatoren gerade dadurch erfolgreich sind, dass sie hohe Präsenz zeigen und nicht kontaktscheu auftreten. Bereits in der Grundschule wird besonderer Wert auf Gruppenarbeit und aktive Mitbeteiligung gelegt, was bei introvertierten Schülern und Schülerinnen viel Druck erzeugen kann. Auch in beruflichen Kontexten werden häufig Teamfähigkeit, Offenheit und hohe soziale Kompetenzen erwartet, da diese als Schlüsseleigenschaften für Leistungsfähigkeit und Erfolg betrachtet werden.
Extraversion wird also stets gefördert und belohnt, während Introversion meist als Schwäche gilt und daher negativ bewertet wird. Wer leise ist, geht in der lauten Welt schlichtweg unter und wird kein erfolgreiches Leben führen können, so die geläufige Meinung.
Doch stimmt das?
Das Verständnis von Introversion im Wandel
Die Fortschritte in der psychologischen Forschung trugen maßgeblich dazu bei, dass Introversion zunehmend als neutrales Persönlichkeitsmerkmal betrachtet wird und gleichwertig zu Extraversion steht.
Bereits im frühen 20. Jahrhundert beschrieb Carl Gustav Jung, Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, in seiner Schrift “Psychologische Typen” den “extravertierten Menschentypen” sowie den “introvertierten Menschentypen”. Der Unterschied beider Typen besteht darin, wie sie psychische Energie für sich gewinnen. Der extravertierte Typ sammelt Energie im Außen, indem er aktiv in Kontakt mit seiner Umgebung tritt. Der introvertierte Typ bezieht seine Energie wiederum aus seinem Inneren, während Umgebungsreize ihn schnell erschöpfen.
Neurophysiologische Erkenntnisse belegen zudem, dass die Gehirne Introvertierter und Extravertierter Unterschiede aufweisen. Dies betrifft insbesondere die Verarbeitung von Reizen: Bei Introversion ist die neuronale Sensitivität und Stimulierbarkeit des Gehirns allgemein erhöht, weshalb introvertierte Menschen reizarme Umgebungen bevorzugen, um ihr psychisches Energieniveau aufrechtzuerhalten. Externe Reize wie Lärm, Licht und soziale Interaktionen können damit das Gehirn sehr schnell überreizen.
Introvertierte haben aufgrund ihrer neuronalen Empfindlichkeit zudem eine niedrigere Dopamin-Schwelle. Die Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin, das in starkem Zusammenhang mit Vergnügung und Motivation durch externe Belohnungen steht, erfolgt bereits bei weniger intensiven Außenreizen. Dadurch ist das Verlangen nach Abenteuer und Geselligkeit bei Introvertierten bereits früher gesättigt als bei Extravertierten.
Weitere hirnphysiologische Studien weisen darauf hin, dass der Blutfluss im Gehirn Introvertierter allgemein höher ist. Die höhere Durchblutung sorgt dadurch für eine allgemein erhöhte Stimulation des Gehirns. Insbesondere der präfrontale Kortex des Gehirns, der mit Problemlösung, Entscheidungs- und Planungsprozessen assoziiert wird, ist bei Introvertierten stärker durchblutet als bei Extravertierten.
Doch auch die zeitgenössische Literatur hat einen großen Beitrag dazu geleistet, Introversion neu zu bewerten. Beispielsweise hat die US-amerikanische Schriftstellerin und Unternehmensberaterin Susan Cain mit ihrem in 2012 erschienenen Bestseller “Still: Die Kraft der Introvertierten” die besonderen Stärken introvertierter Menschen betont und auf internationaler Ebene dazu beigetragen, dass die Perspektive auf Introversion sich verändert hat. Susan Cain gilt als Pionierin einer Bewegung, die introvertierte Persönlichkeiten in der lauten, extravertierten Gesellschaft positiv hervorhebt und ein neues Selbstverständnis fördert. Falls du Susan Cain noch nicht kennst, dann schau dir gerne ihren berühmten TED-Talk “The Power of Introverts” an, der bereits über 16 Millionen Aufrufe erhalten hat.
Introvertiert oder schüchtern? Ein großer Unterschied!
Oft heißt es, wer introvertiert ist, ist auch schüchtern. Tatsächlich können auf den ersten Blick die Verhaltensweisen von introvertierten sowie schüchternen Menschen recht ähnlich erscheinen: Sie sind gerne für sich, reden vielleicht nicht sonderlich viel mit anderen Menschen. Doch zwischen Introversion und Schüchternheit gibt es einen bedeutenden Unterschied: Bei Schüchternheit spielt Angst eine wesentliche Rolle.
Schüchterne Menschen sind in sozialen Situationen zurückhaltend, da sie eine ausgeprägte Furcht vor Zurückweisung, Kritik und Verurteilung haben. Sie kämpfen dabei insbesondere mit starken Selbstzweifeln und mangelndem Selbstvertrauen. In extremen Fällen können sich diese Ängste zu einer behandlungsbedürftigen sozialen Phobie entwickeln. Bei sehr ausgeprägtem Vermeidungsverhalten im gesamten Alltag kann auch eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung dahinterstecken. Die Zurückhaltung schüchterner Menschen erfolgt jedenfalls nicht freiwillig – sie ist als Verhalten angelernt worden durch prägende, negative Lebenserfahrungen und belastet die Betroffenen.
Introversion ist im Gegensatz zu Schüchternheit ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Sozialer Rückzug geschieht nicht aus Angst, sondern aus einem persönlichen Bedürfnis nach weniger Stimulation durch Außenreize. Partys, Lärm und jegliche Menschenansammlungen bereiten dir Stress und laugen dich schnell aus, weil dein Gehirn mit der großen Menge an Reizen schneller überfordert ist. Es geht dabei um den Erhalt deiner psychischen Energie, um leistungsfähig zu bleiben und dich wohl zu fühlen.
Die Grenzen von Introversion und Schüchternheit sind dennoch durchaus fließend. Introvertierte Menschen kennen häufig auch das Gefühl des Unwohlseins in sozialen Kontexten, beispielsweise wenn sie eine Präsentation vor Menschengruppen halten müssen. Das alltägliche Leben erfordert ständige soziale Interaktionen beim Einkaufen, auf Arbeit oder allein beim Gassigehen mit dem Hund, die Introvertierte meistens gerne reduzieren würden, wenn sie könnten. Es ist nicht immer klar erkennbar, ob dahinter eine Angst steckt oder lediglich ein Bedürfnis nach viel Ruhe. Hierfür ist viel Selbstreflexion notwendig, um eventuelle angstbedingte Belastungen feststellen zu können.
Stille Wasser sind tief: Worin liegen die Stärken introvertierter Menschen?
Es gibt viele sehr erfolgreiche Menschen mit ausgeprägter Introversion, die mit ihren Ideen und Fähigkeiten Großartiges geleistet haben! Besonders verblüffend ist es, wenn sich berühmte Persönlichkeiten mit hoher Medienpräsenz wie Keanu Reeves, Emma Watson oder Tom Hanks als introvertiert bezeichnen. Solche Beispiele zeigen: Erfolg muss nicht laut sein.
Menschen mit ausgeprägter Introversion weisen eine ganze Reihe an besonderen Qualitäten auf, die Wertschätzung und Anerkennung verdienen:
- Tiefgründigkeit und analytisches Denken
Introvertierte Menschen sind vor allem bekannt für ihre Nachdenklichkeit. Sie sind oft sehr gut darin, sich intensiv und gründlich mit Dingen auseinanderzusetzen, da sie wissen, dass es nicht nur die eine Antwort auf eine Frage gibt. Für sie gibt es tausend Antworten auf eine Frage und diese reflektieren sie gerne ausführlich. Ihr Fokus liegt dabei auf Qualität – sie wollen die Dinge direkt an der Wurzel packen und keine oberflächlichen Scheinlösungen. Diese Eigenschaft macht sie zu besonders guten Analytikern, Problemlösern und Organisationstalenten.
- Beobachtungsgabe und Vorsicht
Die Beobachtungsgabe und Vorsicht introvertierter Menschen stehen im engen Zusammenhang mit ihrem tiefgründigen Denken. Dadurch, dass sie sich gerne sehr intensiv und kritisch mit Dingen auseinandersetzen, bemerken sie mögliche Schwierigkeiten und Gefahren deutlich früher als andere. Wo extravertierte Unternehmer gerne mal übersprudelnden Ideenreichtum und Risikofreudigkeit an den Tag legen, da kann der introvertierte Berater an seiner Seite ihn rechtzeitig vor der Katastrophe schützen.
- Tiefe Verbundenheit und Einfühlungsvermögen
Introvertierte Menschen werden häufig für ihre hohe emotionale Intelligenz geschätzt. Sie hören ihrem Gegenüber sehr aufmerksam und empathisch zu, ehe sie sprechen. Ihre Worte wählen sie bedacht und sind dabei wirkungsvoll. Nicht selten werden introvertierte Menschen Vertrauenspersonen. Durch ihre hohe Aufmerksamkeit für ihr Gegenüber schaffen sie tiefe, authentische und bedeutungsvolle Verbindungen. Auch hier zählt für sie wieder Qualität statt Quantität – ein guter Freund ist für sie wertvoller als zehn oberflächliche Bekanntschaften. Ihre Fähigkeit, sich intensiv mit anderen Menschen zu befassen, kann dabei eine sehr wertvolle Ressource für Führungspositionen sein, da sie mehr Vertrauen und Sympathie ihrer Mitarbeiter erwecken.
- Kreativität und hohe Vorstellungskraft
„Die Stille ist ein Element, in dem alle großen Dinge geformt werden“ ist ein übersetztes Zitat des schottischen Philosophen und Schriftstellers Thomas Carlyle. Durch Stille und Ungestörtheit können große Ideen entstehen und ausgearbeitet werden. Introvertierte Menschen haben häufig eine besonders hohe Kreativität und Vorstellungskraft, da sie sich gerne ungestört ihren Gedanken und Ideen voll und ganz widmen. Introvertierte Menschen ergreifen deshalb überdurchschnittlich oft kreative Berufe wie Maler, Grafikdesigner oder Musiker.
- Unabhängigkeit
Dadurch, dass introvertierte Menschen meistens kein Problem mit dem Alleinsein haben, sind sie viel unabhängiger von anderen Menschen. Sie benötigen nicht zwingend andere Menschen um sich herum, um zufrieden zu sein und Freude zu verspüren.
- Schriftliche Ausdrucksfähigkeit
Auch wenn die wenigsten Introvertierten jemals eine ernsthafte Karriere als TV-Moderator in Betracht ziehen – dafür glänzen sie wiederum häufig mit ihren ausgezeichneten schriftlichen Ausdrucksfähigkeiten. Das Schreiben bietet ihnen einen großen Freiraum für tiefe Denkprozesse und Reflexion ihrer Gedanken und Ideen. Ihre Worte können sie dabei in aller Ruhe auswählen und niederschreiben.
Fazit
In einer Welt, die Extraversion stets fördert und belohnt, wird Introversion meist als Persönlichkeitsdefizit gesehen, das am Erfolg in der Gesellschaft hindern soll. Doch Introversion wird zunehmend als eine Persönlichkeitseigenschaft gesehen, die tatsächlich sehr viele Potenziale birgt: Tiefgründiges Denken, Empathie und hohe Kreativität sind dabei nur einige der vielen wertvollen Ressourcen von Menschen mit ausgeprägter Introversion. In der Stille liegt eine hohe Kraft – es gilt nur, sie zu entdecken und zu lieben.
Dieser Artikel wurde verfasst von Rebecka Endl
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